"Hannah macht den Tell und was sonst noch so ansteht", gibt der Theaterchef die Regie-Anweisung. Hannah stülpt sich den Hut auf und schreitet als Schweizer Nationalheld forsch einher – mit Armbrust über der Schulter und Säugling auf dem Arm. Schließlich ist Hannah nicht nur Schauspielerin, sondern Mutter und muss ihr Kind zur Arbeit im Theater mitnehmen... Schillers Drama "Wilhelm Tell" mal anders aufgezogen, modern und zeitkritisch, aus dem Blickwinkel heutiger Theaterleute, die unter Sparzwang großes Theater machen wollen und im Stress zwischen Kind, Kunst und Karriere aufgerieben werden: So bringt der Dramatiker Albert Frank den Stoff in seinem heiteren Schauspiel "tell Tell" frei nach Schiller auf die Bühne. Erst im Februar ist das Stück uraufgeführt worden, jetzt spielt es das junge Ensemble "Theater im Park" als Freilicht-Produktion in der Arena im Park im Grünen in Münchenstein als Schweizer Erstaufführung.
Der Plot geht so: Eine Theatertruppe stemmt den Kraftakt Tell in einer gerafften Version nach dem Motto: "Weg mit dem Ballast, hin zum Wesentlichen der Schauspielkunst". Drei Schauspieler übernehmen sämtliche Rollen in dem schweizerischen Freiheitsdrama, spielen die wichtigsten Schlüsselszenen samt Flucht bei tosendem Unwetter, Aufstand, Volksrebellion, Rütli-Schwur, Apfelschuss und Showdown in der hohlen Gasse mit Minimal-Ausstattung, Minimal-Besetzung und maximaler Wandlungsfähigkeit und maximalem Unterhaltungswert.
Allerbestes Schauspieler-Futter hat Autor Frank den drei Akteuren Tanja Horisberger, Manuel Müller und Reinhard Stehle vorgelegt. Sie nutzen die Steilvorlage weidlich aus, brillieren im rasanten Rollenwechsel, Spiellust und Verve. Regisseurin Dalit Bloch springt in ihrer effekt- und temporeichen Inszenierung zwischen der Jetztzeit und der Tell-Zeit um 1300, zwischen aktuellen Szenen im Theatermilieu und den Bühnenszenen des "Tell" hin und her. Das heißt für die Schauspieler, auch mal "aus der Rolle" zu fallen und ständig zwischen dem Heute und dem historischen Drama zu zappen.
Vor überdimensionalen verfremdeten Plakatbildern des Helden Tell dirigiert Reinhard Stehle als Conferencier und Theaterleiter diesen wahnwitzigen Tell im Schnelldurchgang und gibt auch dem gefürchteten Vogt Gessler eine hagere, finstere, bedrohliche Bosheit. Manuel Müller ist mal der fürsorgliche Schauspieler-Papa Heiner mit Fläschchen, mal stürzt er sich lustvoll tragisch und lustvoll komödiantisch in diversen Schiller-Rollen ins Revolutionsgetümmel. Tanja Horisberger wirft sich mit leidenschaftlicher Überzeugungskraft in die Rolle der überlasteten, gestressten Hannah, die unter der Doppelbelastung als Mutter und Künstlerin leidet.
Keine freien Krippenplätze, Tagesmutter zu teuer, also muss der Sohn mit ins Theater, damit Mama den Tell spielen kann. Entwaffnend in der Forschheit gibt sie diese Hosenrolle: eine Frau als Meisterschütze Tell, die Babypuppe an sich gedrückt, mutig, unerschrocken, rechtschaffen, bietet sie/er dem Landvogt Gessler die Stirn, weigert sich, den Fronhut zu grüßen. Der legendäre Apfelschuss wird in fokussierter Zeitlupe simuliert – der Pfeil fliegt in Slow Motion direkt in den Apfel. Wow! Und wie ein Westernheld beim Duell bringt Tell in der hohlen Gasse den verhassten Gessler zur Strecke. High Noon lässt grüßen!
Horisbergers Hannah sorgt dafür, dass dieser "Tell" einen neuen frauenbewegten und emanzipatorischen Anstrich kriegt. Sie besteht auf der Frauenquote beim bisher rein männlichen Rütli-Schwur und gibt die Schillerschen Frauenfiguren Berta von Bruneck und Gertrud Stauffacher als toughe couragierte Widerstandskämpferinnen. Und so tönt es dann: "Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern ... und Schwestern!". Ach ja, das Publikum spielt auch mit, wahlweise als Babysitter oder als murrendes, jammerndes, aufbegehrendes Volk. Das muss man gesehen haben!